hellgrüner Hintergrund mit verschiedenen geometrischen Figuren

Immersion in Spielen als immenses Bildungspotenzial

Konzentrierter Gamer vor PC. Raum nur spärlich beleuchtet. Gesicht des Gamers angestrahlt.

Immersion in Spielen als immenses Bildungspotenzial

Digitale Spiele müssen sich immer wieder im Kulturbereich gegen andere Medien behaupten. Das gilt besonders in den Bereichen Bildung und Soziales. Sind Games nicht nur eine Art der Weltflucht? Sollte man nicht lieber etablierte Kunstformen wie Literatur oder Filme für eine Lernintention verwenden? Was macht Spiele in diesem Bereich so besonders? Dieser Blogeintrag argumentiert, dass Spiele eine einzigartige Form der Immersion bieten, welche in dieser Weise von keiner anderen Kunstgattung geliefert werden kann. Und diese Immersion in Spielen sorgt nicht nur für Spaß – welcher natürlich jede Bildungserfahrung etwas angenehmer macht – sondern auch für einen tiefgehenden Lernprozess, der es dem Spieler oder der Spielerin erlaubt, sich selbst und die Welt um sich herum mit ganz anderen Augen zu sehen.

Ein Gastbeitrag von Malte Wegner, Master-Student an der Universität Hildesheim.


Was bedeutet Immersion?

Immersion, immersive Erfahrung, narrative Transportation – was bedeutet das eigentlich? Vielleicht sind diese Begriffe nicht jedem vertraut, aber die Wahrscheinlichkeit ist groß, dass man bereits sehr immersive Erfahrungen gemacht hat. Man stelle sich folgende Szene vor:

Sie sitzen vor Ihrem Bildschirm. Vor Ihnen liegt eine düstere Waldszene, durch die sich gerade Ihre Spielfigur schleicht. Alles ist still. Sie hören nur das leise Rascheln von Blättern in Ihren Kopfhörern. Angespannt drücken Sie die Vorwärtstaste, damit sich die Spielfigur langsam und ungesehen geradeaus bewegt. Plötzlich durchbricht ein lautes Knacken die Stille. Sie und Ihre Spielfigur schrecken zusammen – beide überrascht von dem unerwarteten Geräusch und voller Sorge, welches unheimliche Monster im dunklen Wald lauert.

Das hier beschriebene Phänomen beschreibt man als Immersion. Immersion ist das metaphorische Eintauchen in eine fiktionale Welt. Der “Taucher” tritt ein in eine andere Erfahrungssphäre, lebt mit den Figuren mit und teilt ihre Erfahrungen.

Frau mit VR-Brille auf dem Gesicht hockt auf dem Boden und schaut nach oben. Bild: https://www.pexels.com/de-de/foto/frau-spielen-technologie-spiel-7561824/

Immersion kann viele Farben und Formen annehmen. Oft verwenden Menschen den Begriff, um über virtuelle Realitäten (VR) oder erweiterte Realitäten (AR) zu sprechen. Dabei geht es häufig um digital-konstruierte Welten, die durch ihre Detailgetreue so echt wirken, dass es dem Nutzer schwerfällt, zwischen Wirklichkeit und Konstrukt zu unterscheiden.

Das ist eine Möglichkeit, immersive Erfahrungen zu erzeugen, aber es ist wichtig zu verstehen, dass Immersion nichts mit Realitätsnähe zu tun haben muss. Man kann sich auch in Fantasy-Romane, hoch-stilisierte Comics oder abstrakten Zeichentrickfilme verlieren. Worauf es letztlich ankommt, sind die (emotionalen) Bezugspunkte, die das Medium zum Nutzer herstellt.

Auch ist es relevant festzuhalten, dass Immersion nicht den totalen Realitätsverlust bedeutet. Der oder die Spielerin vergisst nicht, dass sie gerade vor einem Bildschirm sitzt und ein Spiel spielt. Es kann aber passieren, dass man so tief in das Spiel eintaucht, dass man nicht bemerkt, wenn eine andere Person das Zimmer betritt.

Das Potential von Videospielen

Immersion kann in allen Kunstformen auftreten. Videospiele haben jedoch einen entscheidenden Vorteil gegenüber anderen Medien: Wo man bei Büchern oder Filmen einer Figur beim Handeln nur zusieht, kann man in Videospielen selbst die Figur steuern. Die Entscheidungen der Figur sind die Entscheidungen des Spielers. Wenn der oder die Spielerin möchte, dass die Figur springt, springt die Figur. Und hat die Figur Erfolg, so verspürt auch die Spielende Persson ein Erfolgserlebnis.

Dieser Umstand sorgt für ein ganz anderes Nutzungsverhalten. Liest man ein Buch, könnte man sagen “Ich hätte aber in dieser Situation anders gehandelt”. Man betrachtet die Ereignisse aus einer sicheren Entfernung und bewertet sie als Außenstehende Person. In immersiven Spielen hingegen ist man selbst Entscheider. Man bewertet das Geschehen emotionaler und muss mit den Konsequenzen der Wahl leben.

Damit sind Videospiele anderen Kunstformen nicht grundsätzlich überlegen. Aber es bestehen viele Potenziale, welche nur von Spielen in dieser Hinsicht ausgeschöpft werden können.

Was macht Immersion in Spielen im Bildungskontext interessant?

Die amerikanische Professorin Melanie Green hat unter der Überschrift “Narrativ Transportation” die Effekte von Immersion untersucht. Ihre Studien ergaben, dass umso tiefer die Probanden in eine Geschichte eingetaucht sind, desto mehr wurden sie von ihr beeinflusst. Im Vergleich zu einer Kontrollgruppe änderten sich ihre Meinungen zu den Themen, die innerhalb der Erzählung vorkommen.

Das lässt sich wie folgt erklären: Wenn man in eine Welt eintaucht, erlebt man sie (meist) aus den Augen einer Ankerperson. Man nimmt das Geschehen aus ihrer Perspektive wahr und reflektiert darüber. Ein Beispiel: Man stelle sich eine weiße Person vor, welche keine Berührungspunkte mit struktureller Diskriminierung hat. Diese Person spielt nun ein Game, bei dem die steuerbare Figur nicht weiß ist und das Ziel darin besteht, das tägliche Leben zu navigieren. Beim Spielen erfährt der oder die Spielerin Alltagsrassismen und erhält durch das Gameplay Einblick in die Schwierigkeiten, die beispielsweise ein nicht-deutsch-klingender Nachname mit sich bringt – zum Beispiel bei der Wohnungssuche.

Durch diesen Perspektivwechsel kann sich das Verständnis von sich selbst und der Welt ändern. Dieser Prozess ist (in der Theorie) stärker, als würde man einen Vortrag über das Thema hören. Der Pädagoge John Dewey hat sich bereits in den 1910ern dafür ausgesprochen, dass gelebte Erfahrungen ein besserer Lehrer sind als Schulbücher und Referate. Immersive Spiele bieten die Möglichkeit, solche Erfahrungen zu sammeln. Der Spieler kann in neue Rollen schlüpfen und Dinge ausprobieren, die im realen Leben gar nicht möglich wären.

Wie erzeugt man Immersion in der Praxis

Spieleentwickler*innen, Pädagogisch Tätige und Vermittelnde könnten sich jetzt an dieser Stelle fragen, wie man das Konzept von Immersion in den eigenen Projekten mitdenkt.

Die Forschung diesbezüglich bietet aber keine allgemeingültige Erfolgsformel. Zunächst gibt es verschiedene Zugänge und Theorien, wie Immersion entstehen kann. Professorin Green macht es beispielsweise an vier Faktoren abhängig:

  • Die Verbindung zu den Figuren,
  • die Emotionalität.
  • die Einprägsamkeit der Szenen
  • und die objektive Qualität des Mediums.

Mit letzteren sind Dinge gemeint, die die Immersion stören könnten. Ist das Spiel beispielsweise bugfrei, sprich ohne merkbare technische Fehler? Sind die Texte rechtschreibfehlerfrei? Funktioniert die Steuerung so, wie sie es sollte?

Pressematerial - Life is Strange Remastered Collection. Eine emotionale Szene zwischen nahbaren Figuren, gesetzt zu einprägsamen Bildern wie einem Leuchtturm in einem Sturm, kann ein immersives Erlebnis auslösen, welchen den oder die Spielerin dazu anregt, das eigene bisherige Werteverständnis zu reflektieren.

Bild: Pressematerial – Life is Strange Remastered Collection. Eine emotionale Szene zwischen nahbaren Figuren, gesetzt zu einprägsamen Bildern wie einem Leuchtturm in einem Sturm, kann ein immersives Erlebnis auslösen, welchen den oder die Spielerin dazu anregt, das eigene bisherige Werteverständnis zu reflektieren.

Ob Immersion stattfindet oder nicht, hängt auch von äußeren Faktoren ab wie der eigenen Biografie oder die Umgebung, in der das Spiel gespielt wird. Spielt man beispielsweise ein Spiel in einer vollen und lauten U-Bahn, ist die Wahrscheinlichkeit gering, dass man sich in das Game vertiefen kann.

Das Konzept des Flows

Anstelle von Greens kommunikationswissenschaftlichen Ansatzes kann man sich auch auf den Psychologen Mihály Csíkszentmihályi und sein Konzept des Flows beziehen. Angewandt auf den Bereich Videospiele beschreibt Flow ein Gleichgewicht zwischen dem Schwierigkeitsgrad eines Games und den Fähigkeiten des Spielers. In diesem Gleichgewichtszustand findet ein tranceartiger Zustand statt, bei dem der Spieler seine Umwelt ausblendet und ganz in die Spielwelt eintaucht.

Man könnte auch noch weitere Theorien anführen, beispielsweise aus der Theaterwissenschaft, in der das Thema auch tiefgehend untersucht wurde, aber letztlich lässt sich nur festhalten, dass es keine unumstrittenen Anleitung gibt, die ein immersives Erlebnis garantiert.

Aber allein das Bewusstsein um die Wichtigkeit und die Potenziale, die in Immersion stecken, können dabei helfen, konstruktiv mit Spielen in Bildungskontexten umzugehen. Wie zu Beginn dieses Blogpost angemerkt, wird Spielen oft vorgeworfen, nichts anderes als eine Weltflucht zu sein. Doch vielleicht liegt genau in diesem Vorwurf eine Stärke. Vielleicht ist es ganz gut, in eine andere Welt abzutauchen, etwas Neues zu lernen und mit frischen Augen auf die Realität wieder an Land zu kommen.

Verwendete & weiterführende Literatur

  • Dill-Shackleford, Karen E./Cynthia Vinney; Finding truth in ficition: what fan culture gets right – and why it’s good to get lost in a story. Oxford University Press, New York 2020
  • Gerring, Richard: Experiencing narrative worlds. On the Psychological Activities of Reading. Westerword Press, Colorado 1998
  • Green, Melanie: Transportation into Narrative Worlds. In: Frank, Lauren/Paus Falzone: Entertainment-Education. Behind the Scenes. Palgrave Macmillian, Cam 2021. S. 87-101
  • Green, Melanie/Timothy Brock: The Role of Transportation in the Persuasiveness of Public Narrative. In: Kruglanski, Arie W.: Journal of Personality and Social Psychology, Ausgabe 79. American Psychological Associaltion, 2000. S. 701-721
  • Isbister, Katherine: How Games Move Us. Emotion by Design. MIT Press, London 2017

 


Ein Gastbeitrag von Malte Wegner, Master-Student an der Universität Hildesheim.

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