NS-Verbrechen im Spiel – eine Frage der Perspektive
Gastbeitrag von Florian Fischer, Masterstudent der Public History an der Universität Regensburg.
Erst seit wenigen Jahren setzen sich auch Spiele thematisch mit NS-Verbrechen auseinander. Das Anfang 2022 erschienenen Serious Games „Spuren auf Papier“, welches die Krankenmorde während der NS-Diktatur behandelt, zeigt wie wichtig die Perspektive bei der Auseinandersetzung mit dem Thema ist.
Der Blickwinkel – ein zentrales Spielelement
Wenn eine für Games affine Person über Perspektive in digitalen Spielen spricht, dann sind die ersten Wörter, die ihr in den Sinn kommen möglicherweise „Ego-Perspektive“, „Top-Down“ oder „Third-Person“. Nachvollziehbar, immerhin gibt es ganze Genres zu deren Hauptmerkmalen es gehört das Spiel aus einer bestimmten Perspektive zu erleben, wie zum Beispiel den Ego-Shooter. Darum soll es hier allerdings nicht gehen.
Eine Spielwelt erleben wir in der Regel aus der Sicht eines Avatars. Dieser ist Werkzeug zur Manipulation der Spielwelt und zeitgleich eine in die Spielwelt integrierte Figur. Je nach Genre kann diese verschiedene Formen annehmen. Bei klassischen Rollenspielen etwa ist es die im Charakter-Editor zusammengebaute Figur, die man durch die Spielwelt steuert. Selbst in Strategiespielen wie „Command & Conquer“, in denen man nur anhand des Cursors die Spielwelt manipulieren und dutzende von Figuren in den Kampf manövrieren kann, wird man vom Spiel direkt als „Der General“ angesprochen.
Perspektive spielt auch in der Erzählung einer Geschichte eine große Rolle. So wirken erfolgreiche Titel wie „The Witcher 3“ unter anderem deshalb so interessant und tiefgründig, weil man auf unterschiedliche Charaktere treffen kann, die jeweils ihre eigene Sicht auf die Welt haben.
NS Verbrechen im digitalen Spiel
Spätestens im Jahr 2018 erleben wir in der Welt der digitalen Spiele eine große Weiterentwicklung. Titel wie „Attentat 1942“ und „Through the Darkest of Times” brachten eine lang ersehnte ernsthafte Auseinandersetzung mit dem Thema NS-Verbrechen. Spiele sind eine Kunstform und daher auch in der Lage ernsthafte Inhalte zu vermitteln. Spiele wie das im Februar 2022 erschienene Serious Games „Spuren auf Papier“, welches die Krankenmorde während der NS-Diktatur behandelt, zeigen, wie wichtig die Perspektive bei der Auseinandersetzung mit dem Thema ist.
Das Spiel wird aus der Sicht einer fiktiven älteren Dame erzählt, die auf der Suche nach Antworten nach dem Verbleib ihrer Schwester Anna die Vergangenheit durchforstet. Diese war während der NS-Diktatur Patientin in der Heil- und Pflegeanstalt Wehnen und wurde Opfer des Euthanasie-Programms der Nationalsozialisten. Darunter ist die systematische Ermordung von Menschen mit körperlichen und / oder geistigen Beeinträchtigung zwischen 1933 und 1945 durch Vernachlässigung oder aktive Tötung zu verstehen. Die Geschichte der ermordeten Anna wird aus drei unterschiedlichen Perspektiven erzählt.
Bei der ersten Perspektive handelt es sich um die der älteren Dame, die tagebuchartig das Schicksal ihrer ermordeten Schwester niederschreibt und mit ihrer Stimme als Erzählerin durch das Spiel führt. Sie verbindet durch ihre Funktion als Avatar gleichzeitig die Spielenden mit dem Spiel und der Geschichte, indem sie Verknüpfungen zur Gegenwart herstellt.
Das Spiel bietet spannenderweise auch einen Einblick in die Täterperspektive, indem es die Spielenden die von den Ärzten und Pflegern ausgestellte Krankenakten und Schriftwechsel einsehen lässt. Hierbei werden die bürokratischen Prozesse und die dahinterstehende dehumanisierende Logik gezeigt, die zu der Ermordung von hunderttausenden Menschen geführt haben.
Die letzte Perspektive wird durch die von Anna angefertigten Zeichnungen dargestellt. Diese beinhalten auch die Hauptgameplay-Elemente des Spiels, denn sie sind gleichzeitig auch Puzzle- und Rätseleinlagen, die zum Weiterkommen notwendig sind. Hierbei ist anzumerken, dass solche Zeichnungen neben Briefen an die Angehörigen zu einer wichtigen Quelle der Krankenmorde gehören, da es Selbstzeugnisse der Opfer sind. Diese wurden oft nur mit einfachsten Mitteln angefertigt: Papier, Kohle oder Bleistift. Dies greift das Spiel auf und zeigt dadurch den Mangel und das Leid, das den Opfern widerfährt, ohne dabei auf drastische Gewaltdarstellungen zurückzugreifen.
Zusammen ergeben diese drei Perspektiven einen guten Einblick in die Geschichte der NS-Krankenmorde. Zum einen ist da das Leid der Angehörigen, verkörpert durch den Avatar der Spieler*innen. Zum anderen die tödliche bürokratische Logik der Täter und letztlich das Leid der Opfer selbst – dargestellt durch die angefertigten Zeichnungen. Würde eine dieser Perspektiven fehlen, hätte man letztlich nur einen eingeschränkten Zugang zur Thematik. Es wäre ein Schritt weiter weg von einer ernsthaften und dem Thema gerechten Auseinandersetzung.
Multiperspektivität – mit Grenzen
Daraus lässt sich schließen, dass Multiperspektivität einer der Schlüssel zu einem adäquaten und ethischen Umgang mit dem Thema NS-Verbrechen im digitalen Spiel ist. Nur so lassen sich die komplexen Zusammenhänge zeigen, welche zu diesem dunklen Kapitel in unserer Geschichte geführt haben. Doch aktuell gibt es im Bereich der digitalen Spiele noch Grenzen.
Zum einen ist weder bei „Spuren auf Papier“ noch bei anderen Titeln wie „Through the Darkest of Times“ der Avatar des Spiels direktes Opfer des NS-Terrors. Diese Ereignisse erleben die Spielenden hier hauptsächlich aus der Perspektive des Beobachters. Auf der einen Seite nachvollziehbar. Denn es ist fraglich, ob die erlebte Grausamkeit eines KZ- oder Euthanasie-Opfers in einem spielerischen Setting simuliert werden kann und soll. Auf der anderen Seite erleben wir seit Jahren die Simulation von Krieg und deren Beteiligten im digitalen Spiel. Die Qualität der ludischen Auseinandersetzung mit dem Thema Krieg variiert sehr stark von Spiel zu Spiel, doch positive Beispiele wie “Valiant Hearts – The Great War” oder “This war of Mine” zeigen, dass eine ethisch wertvolle Auseinandersetzung mit dem Thema Krieg durchaus möglich ist und dabei der Avatar der Spieler*innen direkt betroffen sein kann.
Desweiteren gibt es bisher kein Spiel aus Sicht der Täter*innen. Es ist nachvollziehbar, warum sich Entwickler*innen bisher nicht an diese Idee herangewagt haben. Eine ethisch korrekte Auseinandersetzung dürfte sich als äußerst schwierig gestalten. Schließlich sollen die von den Nazis verübten Grausamkeiten, die Ausbeutung und der Missbrauch auch weiterhin nicht nachspielbar sein. Eine der wenigen Ausnahmen für eine Täter*innenperspektive im Spiel, ist das 2018 erschienene Spiel „Battlefield V“ mit der Singleplayer-Kampagne „Der letzte Tiger“, welches das Ende des Zweiten Weltkriegs aus der Sicht eines deutschen Panzerkommandanten zeigt. NS-Verbrechen spielen hierbei allerdings lediglich in der Form hingerichteter Deserteure eine Rolle. Eine verpasste Chance und problematisch, denn die Verbrechen der Wehrmacht beschränken sich nicht auf die Hinrichtung von Deserteuren.
Entwickler*innen scheinen in den beiden oben genannten Perspektiven bisher eine rote Linie zu sehen, die nicht überschritten werden sollte. Ob diese Linien unüberschritten bleiben oder ob sich zukünftig kreative Wege finden lassen, die direkte Opfer- und Täter*innenperspektiven ethisch verantwortungsvoll in einem digitalen Spiel verarbeiten wird sich noch zeigen. Es wäre wünschenswert, wenn mehr Entwickler*innen den Schritt zu einem seriösen Umgang mit der NS-Vergangenheit wagen würden. Best Practice Beispiele wie “Spuren auf Papier” oder “Through the Darkest of Times” machen es vor. Genug Themen gäbe es.
Gastbeitrag von Florian Fischer, Masterstudent der Public History an der Universität Regensburg.